„Into the Wild“: Carine über den Tod ihres Bruders Chris McCandless - WELT (2024)

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Ein junger Mann, gerade Anfang 20, verschenkt all seine Ersparnisse, trampt durch die USA und zieht sich dann in die Wildnis Alaskas zurück. 1992 wird dort seine Leiche gefunden; Christopher Johnson McCandless, so sein Name, ist verhungert.

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Sein Leben, aber auch sein einsamer Tod faszinierten in den darauffolgenden Jahren Menschen aus aller Welt. Jon Krakauers Buch „Into The Wild“ über „Chris“ McCandless wurde zum Bestseller. Auch der von Sean Penn produzierte, gleichnamige Film über den Aussteiger war ein Erfolg.

Was aber trieb Chris McCandless überhaupt in die Wildnis, und das ohne ein Wort des Abschieds von seiner Familie? Seine Schwester Carine McCandless gibt in ihrem nun auch auf Deutsch erschienen Buch „Wild Truth“ (btb Verlag) die Antwort: „Er war nicht verrückt. Dass er in die Wildnis floh, war vielleicht das Gesündeste, was er je getan hat“, schreibt die 43-Jährige.

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Durch die Buchveröffentlichung mit teils intimen Familiendetails hat nun auch Chris jüngere Schwester mit den Eltern gebrochen. Die Entfremdung ist gegenseitig: Als die „Welt“ bei der von Chris’ Vater verantworteten Memorial Foundation um die Bildrechte an den berühmt gewordenen Fotos bat, die der junge Mann per Selbstauslöser in seinen 113 Tagen in Alaska geschossen hatte, gab es eine schriftliche Ablehnung.

Begründet wurde sie damit, dass man die Inhalte von Carines Buch nicht gutheiße. Die Originalfotos, darunter auch das letzte Bild, das Christopher vor seinem Tode von sich schoss, sind deshalb für „Welt“-Leser online nur hier zu sehen.

„Into the Wild“: Carine über den Tod ihres Bruders Chris McCandless - WELT (2)

Die Welt: Hallo Misses McCandless, Sie sind zu Hause. Gibt es dort etwas, was Sie an Ihren Bruder erinnert?

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Carine McCandless: Es gibt kaum Dinge, die mich an meinen Bruder erinnern, weil sie eben nur das sind: Dinge. Mich erinnern eher Erlebnisse an ihn, draußen sein, wandern, meinen Kindern beim Spielen zusehen. Allerdings besitze ich ein paar seiner Bücher, und ich schaue oft hinein, lese mir seine Notizen am Rand durch. Und ich habe mehrere Fotos von ihm in meinem Zuhause. Ich erzähle meinen Töchtern auch viel von ihm.

Die Welt: Chris starb mit nur 24 Jahren, er verhungerte, wog zuletzt nur noch 30 Kilo. Er war bereits 19 Tage tot, als er gefunden wurde. Wie sehr schmerzen Sie diese Umstände noch?

McCandless: Die Umstände, unter denen er starb, sind in der Tat furchtbar, und der Gedanke daran macht mich noch immer sehr traurig. Dennoch habe ich es geschafft, meinen Frieden mit seinem Tod zu machen. Chris selbst hatte seinen Seelenfrieden gefunden, ganz unabhängig von seinem körperlichen Leiden, und ich bin stolz auf das Leben, das er gelebt hat.

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Die Welt: Ihre Trauer ist nie ganz privat, da Ihr Bruder durch Buch und Film eine öffentliche Figur, für einige gar eine Kultfigur geworden ist. Zerstören Sie den Mythos des mutigen, naturnahen Freiheitssuchers?

McCandless: Nein, mein Buch nimmt niemandem etwas weg. Und die Leute, die das Buch von Jon Krakauer kennen, lernen nun noch dazu. Jon hat eine Seite an Chris aufgezeigt, die ich so nicht kannte, er zeigte ihn als jungen Mann, als einen Abenteurer, der große Risiken auf sich nahm, aber auch als jemanden, der eine sehr belastete Vater-Sohn-Beziehung hatte. Ich teile nun die Hintergründe, die den Rest der Geschichte erzählen. Ich will zeigen, was Chris für ein Mensch war, jenseits der literarischen Figur, die er geworden ist. Ich glaube, dass die Leute nun noch mehr von ihm lernen können. Die besten Lektionen erteilt uns das, was den Menschen zum Menschen macht, und nicht das, was ihn zur Ikone macht.

Die Welt: Ihr Buch heißt „The Wild Truth“, es verspricht, das Geheimnis hinter Chris’ Weltflucht zu lüften. Was also ist die Wahrheit?

McCandless: Wir sind in einer gewalttätigen und dysfunktionalen Familie aufgewachsen. Schon als wir Kinder waren, wurde uns gesagt, dass wir, Chris und ich, angeblich Schuld an allen unseren Problemen, an unserer chaotischen Lebenssituation seien. Als wir älter wurden, haben wir verstanden, dass dem natürlich nicht so war. Aber unsere Eltern hörten nicht auf, uns Vorwürfe zu machen. Das trieb Chris zu dem Abschied, den er dann wählte – er ging wortlos, ohne eine Erklärung.

Die Welt: Sie wuchsen mit einem dunklen Geheimnis auf, das Sie als „Polygamie“ bezeichnen – ihr Vater hatte nämlich noch eine Familie, mit einer Frau, die ihm sechs Kinder gebar.

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McCandless: Ja. Unser Vater Walt hat seine erste Ehefrau damals nicht endgültig verlassen, sondern ging immer nur für ein paar Wochen am Stück zu seiner Geliebten, unserer späteren Mutter. Chris und ich wurden in dieser Zeit des Hin-und-her-Schwankens auch geboren, deshalb sind wir teils gleich alt wie einige seiner sechs Kinder aus dieser Beziehung. Ja, das war sehr belastend für uns. Wir kannten unsere Brüder und Schwester übrigens gut, wir haben viel Zeit und oft sogar die Ferien mit ihnen verbracht. Gleichzeitig waren wir natürlich zu jung, um zu verstehen, was es, auch in den Augen anderer, bedeutete, dass unser Vater zwei Familien hatte.

Die Welt: Wollte Chris nach diesen Erlebnissen absolute Klarheit anstatt der ständigen Lügen, die er als Kind erlebt hatte?

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McCandless: Ja. Exakt. Das hat er mir genau so gesagt.

Die Welt: Fand auch körperlicher Missbrauch statt? Wurden Sie und ihr Bruder geschlagen? Oder taten eher die Unwahrheiten, die schwankende Stimmung, die ständigen emotionalen Dramen weh?

McCandless: Alles, was Sie ansprechen, fand statt. Und alles tat sehr, sehr weh.

Die Welt: Sie rekonstruieren in Ihrem Buch auch die letzten Monate vor Chris’ Tod. Auch dort haben Sie Gewalt und falsche Freunde entdeckt.

McCandless: Ja. Leider.

Die Welt: Gleichzeitig sind Sie sich sicher, dass Chris nicht in die Wildnis gegangen ist, um zu sterben, so wie es manche behauptet haben. Im Gegenteil, er machte Pläne für die Zeit nach seiner Reise. Das ist Ihnen wichtig, oder?

McCandless: Ja. Chris liebte das Leben, sein Leben! Sein Tod war nur ein Unfall, so wie es auch Jon Krakauer rekonstruiert hat.

Die Welt: Jon Krakauer geht davon aus, dass Chris eine Vergiftung erlitten hat. Verdorbene Samen, die er aß, haben ihn so geschwächt, dass er nicht mehr nach Essen suchen konnte und dann verhungerte.

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McCandless: Ja, das stimmt. Jon konnte dies mit einem ärztlichen Gutachten auch belegen. Darüber hinaus hat Chris in seinem Tagebuch auch entsprechende Notizen hinterlassen, die auf diese Umstände hinweisen.

Die Welt: Die Missverständnisse innerhalb der Familie gingen auch nach Chris’ Tod weiter. Seine Asche etwa, so schreiben Sie, wurde im Wasser verstreut, und das, obwohl er zu Lebzeiten immer Angst vor Wasser hatte.

McCandless: Ja. Unsere Eltern haben Chris nie richtig verstanden. Sie tun es heute noch nicht.

Die Welt: Wie ist Ihr heutiges Verhältnis?

McCandless: Meine Eltern haben sich dafür entschieden, weder mit mir noch mit meinen Kindern, ihren Enkelkindern, Kontakt zu haben. Und ich, aber auch meine anderen Brüder und Schwestern, sehen es ähnlich, dass es für sie und ihre Familien gesünder ist, keinen Kontakt mehr zu ihnen zu haben.

Die Welt: Es ist zu wenig, schreiben Sie, Christopher nur als Kult-Aussteiger zu sehen. Für was steht er dann?

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McCandless: Die Suche nach der Wahrheit ist in allen Bereichen des Lebens wichtig. Und es ist wichtig, zu akzeptieren, dass man für die Konsequenzen des eigenen Handelns geradestehen muss, seien sie nun gut oder schlecht.

Die Welt: Jeder sieht in Chris’ Geschichte das, was ihm am besten passt“, schreiben Sie. Was würde ihm wohl selbst gefallen haben?

McCandless: Dass er Menschen zum Nachdenken gebracht hat. Über das, was richtiges Leben und nicht nur Existieren ist. Oder wenn er sie dazu inspiriert hat, ihr eigenes Leben wahrhaftig und intensiv zu leben.

Die Welt: Sie haben den verlassenen Bus besucht, in dem Chris lebte, Sie saßen auf dem Bett, in dem er starb. Wie war es, an diesem Ort zu sein?

McCandless: Ich war insgesamt drei Mal dort. Das letzte Mal im Mai dieses Jahres, ich bin dorthin getrampt. Jedes Mal habe ich Frieden verspürt – aber auch Traurigkeit.

Die Welt: Der Bus ist spätestens nach der Verfilmung von „Into The Wild“ durch Sean Penn eine Pilgerstätte. Menschen kommen, sie machen Fotos vom Bus, sie setzen sich auf das Bett, in dem Chris starb. Stört Sie das?

McCandless: Nein, das stört mich nicht. Jeder darf diesen Ort besuchen, so wie ich es getan habe. Die Menschen, die kommen, sind von Chris inspiriert. Sie wollen ihm nah sein, und was vielleicht noch wichtiger ist, sie wollen sich selbst spüren.

Carine McCandless lebt in Virginia Beach (USA), sie ist 43 Jahre alt, Geschäftsfrau, Uni-Dozentin und Autorin und, wie sie selber sagt, derzeit „vor allem Mutter“: Ihre Töchter Heather und Christiana sind 15 und acht Jahre alt. Ihr Buch heißt: „Wild Truth. Die wahre Geschichte des Aussteiger-Idols aus Into The Wild’“, btb Verlag, 19,99 Euro.

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Author: Melvina Ondricka

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